Mittwoch, 29.12.2021
Seit den Ferien lese ich zum Einschlafen ein wenig in Maxine Greenes ‚Releasing the Imagination‘. Sie schreibt: “To call for imaginative capacity is to work for the ability to look at things as if they could be otherwise”, und einige Sätze weiter: “To tap into imagination is to become able to break what is supposedly fixed and finished, objectively and independently real. It is to see beyond what the imaginer has called normal or “common-sensible” and to carve out new orders in experience. Doing so, a person may become freed to glimpse what might be, to form notions of what should be and what is not yet. And the same person may, at the same time, remain in touch with what presumably is.” (Greene S.19)
Eine ähnliche Perspektive findet sich bei Till Krause, einem im edukativen Feld arbeitenden Künstler, auf den ich in der Lektüre von "‚Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze” von Eva Sturm gestoßen bin. Krause sagt: „Es heißt, der Künstler zeigt uns die Dinge so, dass wir sie mit anderen Augen sehen können; er schafft es, dass wir die Dinge in neuen Zusammenhängen erkennen. Wie kommt man dahin? Indem man die Zweckbestimmungen, mit denen wir etwas in unserer Dingwelt normalerweise wahrnehmen, lose werden lässt, so dass man etwas plötzlich neu sehen kann.” (Krause zit. nach Sturm 2011: S.155)
Beide Positionen, die edukativ-künstlerische von Maxine Greene und die künstlerisch-eduaktive von Till Krause deuten in die gleiche Richtung. Beide Male geht es um das Lose Werden, das Wackelig machen der Begriffe, der Ideen, der Dinge. Nach Greene bringt dieses Vorgehen die Imagination hervor. Erst wenn die Dinge ihren angestammten, fixen Platz verlieren, kommt in den Blick, dass die bisherige Ordnung auch anders sein könnte. Es muss erst das Mögliche in den Blick kommen, vorstellbar werden, bevor Veränderung passieren kann. Sie zitiert Emily Dickinson: “The Possible´s slow fuse ist lit/By the Imagination” ([1914] 1960, pp.688-689). Dickinson hätte, so wie auch Dewey, Stevens und Arendt, gewusst, dass das Imaginieren von Dingen als wären sie anders, der erste Schritt zum Glauben ist, dass diese Dinge tatsächlich geändert werden können (vgl. Greene, 1995 S.22). Bei Krause ist das Methode. Wenn er vom Künstler spricht, ‚der uns die Dinge so zeigt, wie wir sie mit anderen Augen sehen können’, dann sei hier auf den Doppelcharakter der Zeigebewegung hingewiesen. Im Zeigen überlappen sich die Rollen von Künstler_In und Pädagog_In. (vgl. Sturm 2008)
Platziere ich diesen Zugang nun in der Schule, so habe ich es mit einem Umfeld zu tun, dass seine emanzipativen Bestrebungen anders verfolgt, als wie oben beschrieben. Es geht in Fächern wie zb. Englisch und Biologie gerade ums Kennen Lernen von Begrifflichkeiten, um das Wissen von Kategorien, um sich an ihnen zu orientieren. Die Fächer ziehen eine Ebene auf dem Chaos, sie bringen Struktur und sind sinnstiftend. Insofern als sie Orientierung geben, sind sie emanzipativ, denn nur, wer die Regeln kennt, kann sie schließlich auch brechen, aber auch als Coping-Kompetenzen. Eine Kunstpädagogik, die sich wie oben beschrieben versteht, muss aus ihrem Fachverständnis heraus andere Fächer in Aufregung versetzen. Die mühsam erlernte und beigebrachte Ordnung wird im Kunstunterricht methodisch ins Wanken gebracht. Die frisch gepflanzte Ordnung wird bereits wieder lustvoll unterwandert. Mit dem so skizzierten Fachverständnis geht eine klare gesellschaftliche Aufgabe einher. Damit kann es beispielweise das schulinterne Begründungsmuster eines Kompensationsfaches (vgl. Peez 2008), in dem ‚man endlich mal abschalten kann‘, ergänzen.
Maxine Greene: Releasing the Imagination. Essays on Education, the Arts and social Change. USA, 1995
Eva Sturm: Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze. Turia & Kant, 2011
Eva Sturm: Mit dem, was sich zeigt. Über das Unvorhersehbare in Kunstpädagogik und Kunstvermittlung. In: Studien zur Kunstdidaktik/Band 6.(Un) vorhersehbares Lernen: Kunst-Kultur-Bild. Dortmunder Schriften zur Kunst 2008
Georg Peez: Einführung in die Kunstpädagogik. Kohlhammer Urban 2008