Der "heimliche Lehrplan" war für mich immer schon eine wichtige Vokabel, aber sie reicht nicht aus, um alle Vorgänge abseits des offiziellen Lehrplans zu beschreiben. Die Akteur_Innen des heimlichen Lehrplans verbleiben schließlich die Erwachsenen. Es gibt jedoch auch einen Lehrplan, den die Kinder und Jugendlichen selbst täglich erschaffen, und der für die Identitätsstiftung vermutlich von hoher Breitenwirksamkeit ist. Es ist ja so, dass die Schüler_Innen den quantitativ größten Anteil der Schule ausmachen. Nun ist das wohl erfolgreichste pädagogische Konzept die "wiederholte Nachahmung", und da ist es nur klar, dass die riesige Gruppe der Schüler_Innen das größte Potenzial eines Lauffeuers wiederholter Nachahmung und damit der Lehre darstellt. Allein- der Lehre von was?
Man stelle sich an dieser Stelle vor, durch die Gänge des Schulhauses schrillten die hellen Kinderstimmen lachend und scherzend pythagoreische Formeln, die Grundpfeiler der semiotischen Bildanalyse, oder die lateinischen Deklinationsbegriffe. Aber die schulischen Lehren sind meistens entweder zu komplex oder zu trocken, um sie in einen eingängigen und zur Nachahmung animierenden Ohrwurm zu verwandeln. Zu trocken heißt hier, dass vieler schulischer Materie der Sexappeal fehlt, den Pubertierende suchen. Deshalb ist im Teenie-Lehrplan dieser Tage "Bauch Beine Po" und "Sigma Boy" angesagt. Diese TikTok-indizierte Lehre ist so fragwürdig, wie sie erfolgreich Antworten auf der Suche nach Identitätsstiftung bietet. Während sich Jungen mit Sigma Boy ein neues anzustrebendes Männlichkeitsbild zulegen (einsamer Wolf), finden sich Mädchen in Bauch Beine Po in einer körperlichen Selbstoptimierungskultur wieder. Beide Bilder sind nicht schlimm, aber bestätigen doch in sublimer Weise den Status Quo eines verengten Männlichkeitsbildes bzw. eines leistungsdefinierten Körperbewusstseins, und Sigma Boy macht irgendwie auch Werbung für russischen Lifestyle, was dieser Tage einfach seltsam wirkt. Und dann sind beide Songs nicht explizit sexuell, aber der harte Beat zusammen mit der in Kinderstimme vorgetragenen Anmache verlegen Themen von Sex und Sexualität in einer befremdlichen Weise in ein zunehmend kindlicheres Alter.
So findet TikTok seine inoffizielle Vertretung im Lehrplan durch die Teenager. Verkehrt herum wäre es nun immer angebrachter, den offiziellen Lehrplan auf den Teenie Lehrplan reagieren zu lassen, dergestalt, dass Lehrende versuchen, pythagoreische Formeln in eingängige sexy Ohrwürmer zu verwandeln, als auch die kritische Auseinandersetzung mit den Interessen anzustoßen, die social media in sublim- manipulativer Weise an ihr junges Klientel heranbringt.