3.2.2022
Heute hatte meine vierten Klasse ihre letzte Einheit im technischen Werken. Es waren nur 6 SuS anwesend. Davon bauten sich zwei einen provisorischen Tischtennistisch aus vier Werktischen und spielten den größten Teil der Zeit mit ihren selbst gebauten Schlägern. Die restlichen vier SuS arbeiteten weiter an dem Auseinandernehmen der Spiegelreflexkamera. Ich hatte sie vor einiger Zeit in bereits kaputtem Zustand um 5 € am Flohmarkt gekauft. Die SuS schraubten nun solange, bis die Schraubenzieher als Werkzeug nicht mehr ausreichten. Dann wurden mit Feinsägen die Gehäuse von Objektiven aufgesägt, und schließlich kam der Hammer zum Einsatz. Dies ereignete sich, nachdem die SuS bereits zwei Stunden mit dem Sezieren der Kamera beschäftigt gewesen waren. Bisher war es ein Ding der Feinmotorik, mit der sie der Feinmechanik gleichkamen, doch irgendwann war das keine Option mehr. Emotional und ressourcenmäßig waren die SuS reif dafür, mit dem Hammer auf den Rest der Kamera einzuschlagen.
Das ist ein ungewöhnlicher Vorgang für die Schule. SuS, die ihre Aggressionen unter Beaufsichtigung der Lehrperson an einem hochkomplexen mechanischen Gerät auslassen. Es lässt sich über den moralisch-pädagogischen Wert dieses Vorgehens streiten. Ich möchte jedenfalls zu bedenken geben, dass Sigmund Freud es als wertvolle Kindheitserfahrung beschrieben hatte, dass sein Vater ihm und seiner Schwester ein Buch geschenkt hatte, mit dem sie tun und lassen durften, was sie wollten. Sie hatten es sodann auseinandergenommen, “wie eine Artischoke”. Nach seinem eigenem Dafürhalten hat Freud diese Erfahrung bibliophil gemacht.*
Schließlich hatten wir eine große Summe an winzigen Teilchen. V. machte sich aus einem der Objektivringe einen Armreif. A. machte sich Creolen, L. schaffte es mit ihrer dünnen Hand, auch die kleineren Objektiv-Ringe als Armreif überzustreifen. Den Schmuck-Aspekt hatte ich nicht vorhergesehen. Dieser Teil des Projekts ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel für die Wechselseitigkeit des pädagogischen Verhältnisses. Die SuS brachten sich auf diese Weise improvisierend ein, und das war für mich als Lehrer bereichernd. Fest steht für mich die große Bedeutung der Tatsache, dass die SuS auf die Idee kamen, den Schmuck herzustellen, und nicht ich. Ich glaube, dass dies wesentlich ist für die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. A. sagte zum Schluss, dass das eine sehr gute Stunde gewesen war, und bedankte sich bei mir. Ich nehme diesen Dank für das Erlauben und Zulassen eines eigenen experimentellen und improvisierenden Zugangs. Das letzten Endes die Sektion einer Kamera zu einem neuartigen Schmuckdesign führt, ist so das Ergebnis eines Unterrichts, bei dem am Anfang nicht fest steht, was am Ende sein soll.
* Freud ganz intim / ARTE Doku, 00:06:42 https://www.youtube.com/watch?v=xa53zoAhBu4