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DIE SCHULE ALS SEMANTISCHES PROJEKT BETRACHTEN

(Angesichts unverständlicher Begriffe bitte ich, den Glossar ganz unten zu kontaktieren!)

Ich schlage vor, die Schule als ein semantisches Projekt zu betrachten: Die Schüler_Innen sollen lernen, die Welt zu deuten. Sie sollen lernen, wie man deutet, um Bedeutung zu empfangen, sie sollen lernen, Bedeutung zu verschieben, sie sollen lernen, der Welt und sich selbst Bedeutung zu geben. (1)

Wer Schule als ein semantisches Projekt denkt, könnte daraus schließen, dass der Referent nicht zwingend anwesend sein muss: Bedeutung wird symbolisch hergestellt. Es reicht die Aufrufung des Signifikanten und des Signifikats. Das heißt, dass man keinen Elefanten in die Schule bringen muss, um über Elefanten Wissen zu sammeln, und nicht zum Nordpol fliegen muss, um von diesem zu erfahren. Texte und Bilder über Elefanten und den Nordpol reichen aus, um einen Eindruck von diesen Dingen zu gewinnen, -das bedeutet die Idee von Schule als semantischem Projekt. Wer die Schule in der Weise betrachtet, versteht sie als eine symbolische Einrichtung.

Die moderne Schule nach dem Modell des 19. Jahrhunderts hat getrennte Fächer, denen Zeiten und Räume zugeordnet sind, in denen die Lernenden in Sitzreihen von Lehrenden lernen sollen. Die einzelnen Fächer sind semantische Methoden, also Wege, Bedeutung zu schaffen. Sie sind Sprachen: Die formalen Sprachen der Mathematik, die Sprache des gesprochenen und geschriebenen Wortes, die Sprache der Biologie, die Sprache des Visuellen usw. Diese viel kritisierte Form der in Fächer, Zeiten und Räume geteilte Schule ist aus semiotischer Perspektive verständlich. Wenn die ganze Lehre symbolischer Art ist, braucht es nichts anderes als Sitzreihen. Die Bedeutung der Fächer entsteht nach dem semiotischen Modell durch ihre Unterscheidbarkeit voneinander. Das Ausdifferenzieren von Kategorien bis in die kleinsten und feinsten Unterschiede ist eine Praxis, die sich in der semiotischen Struktur rechtfertigt: Hund ist nicht Katze, A ist nicht B, Biologie ist nicht Informatik usw. Wären Hunde Katzen und umgekehrt, so würde ihre Unterscheidung keinen Sinn machen, folglich würden die Wörter bedeutungslos. An welchen Merkmalen und entlang welcher Grenzen man Kategorien festmacht, ist aber nicht immer so klar.

Während die gesprochene Sprache ein willkürliches Verhältnis zur Realität unterhält, ist Unterscheidbarkeit in den meisten Fällen auf eine direkte Verbindung zum Referenten, also auf reale Umstände zurückzuführen. Katzen haben eine andere Erscheinung, riechen anders, sind anders strukturiert, haben andere Eigenschaften und Fähigkeiten als Hunde. Dies wurde über ikonografische und indexikalische Zeichen immer wieder hergestellt und gilt als ‚Fakt‘. Deshalb unterscheidet man Katzen von Hunden auch sprachlich voneinander. Wie ist das aber mit weniger klar trennbaren Kategorien? Riecht textiles Werken anders als technisches Werken? Ist es anders strukturiert? Hat es andere Vermögen als technisches Werken? Offensichtlich ist all das mit ja zu beantworten. Die Indizien sprechen für eine klare Unterscheidung zwischen textilem und technischem Werken. Dennoch wurden die beiden Fächer letztes Jahr zu einem Fach zusammengelegt, und symbolisch mit einem neuen Wort besiegelt: TaD, also „Technik und Design“. Daran ist zu sehen, wie die Bedeutung eines Signifikanten sich historisch nicht nur verschiebt, sondern sich auch verringern kann. Die Erschaffung eines neuen Signifikanten „Technik und Design“ ist dabei nur das letzte Stadium eines Kampfes, der hauptsächlich um das Signifikat stattfindet. Das Signifikat, also jener Teil, welcher zwischen dem Signifikanten und dem Referenten vermittelt, ist Hauptgegenstand jedes Diskurses, jedes zivilgesellschaftlichen Kampfes. Das Signifikat erlaubt Veränderung, und die ideologischen Bewegungen und politischen Fraktionen ringen um die Richtung dieser Veränderung.(2)

Die Zusammenlegung von textilem und technischem Werken finden die meisten Kunstpädagog_Innen in meinem Umfeld bedauerlich. Eindeutig fällt das Urteil in die Richtung aus, dass die Bedeutung des Signifikanten ‚Werken‘ Einbußen einstecken musste. Ich kann mich noch erinnern, wie Professor_Innen in der Unterrichtspraxis mir gut zu sprachen, immer auf die Unterschiede der beiden Werkfächer zu achten und die Grenzen der beiden Fächer aufrechtzuerhalten. Die Unterscheidung solle die jeweiligen Signifikanten stärken, auch als politische Ambition. Ich habe das nie verstanden. Als großes künstlerisches Merkmal identifiziere ich das Öffnen und Erweitern des Signifikats, wie es der, der modernen Kunst eigenen Tradition einer ständigen Neuhinterfragung der Form entspricht (nicht ohne Grund haben die künstlerischen Fächer einen offener formulierten Lehrplan als die meisten anderen). Das Bedauerliche ist nicht die Zusammenlegung verschiedener Signifikate unter einem neuen Signifikanten, sondern die Verringerung des letzteren, die sich im Referenten als Stundenkürzung sichtbar macht. Werken als das Fach, das sich neben “Bewegung und Sport” noch einer haptischen und motorischen Anbindung an die materielle Realität widmet, wird etwa dem mehr oder weniger symbolischen Feld der digitalen Bildung überlassen. Entsprechend der kompetenzorientierten Dreiteilung von Wissen, Reflexion und Praxis in den Lehrplänen und in der Maturastruktur, sollten auch die Fächer untereinander nach ihrer Priorisierung von Wissen, Reflexion und Praxisbezug (=Signifikant/Signifikat/Referent) unterschieden werden und zu einem gleichmäßigen Verhältnis in den Schulen repräsentiert sein. Die eigentliche Fehlentwicklung muss daher gerade sein, die Schule als rein semantisches Projekt zu betrachten!

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Verhandelt man Schule als semantisches Projekt, so lässt man nach den bisher vorgebrachten Argumenten, den Referenten außen vor. Der Lernprozess verbleibt in einer rein symbolischen Ebene. Die Idee ist, dass eine Kenntnis der Symbole das Handeln und Sich-Verhalten zum Referenten, bzw. zur Realität ändert, und somit auch die Realität selbst. Es wird aber immer evidenter, dass es einen Unterschied macht, der nichts mit Signifikanten und Signifikaten zu tun hat, ob man vom Nordpol gelesen und gehört hat, oder ob man schon mal an diesem tatsächlichen, realen Ort gewesen ist. In genau der gleichen Weise macht es einen materiell/physischen Unterschied, über Katastrophen zu lesen, und sich in einer Katastrophe zu befinden. Die zu einem guten Teil durch die Digitalisierung voranschreitende Kluft zwischen symbolischer Bedeutungsgenerierung und tatsächlicher physischer Realität manifestiert sich an den Grenzen der symbolischen Welt, die sich oftmals mit der heilen Welt der kapitalistischen Demokratien deckt: Dort passieren die Kriege, Überschwemmungen, Dürren und Tsnuamis, -im wohlbehüteten gut geheizten Heim am hypertechnologischen Endprodukt des Laptops liest und hört man davon.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Realität über diesem Eskapismus des Symbols hereinbricht. Ein erstes Resultat ist die reale Vereinsamung in Zeiten nie da gewesener Verfügbarkeit.

Schule muss ihr semantisches Projekt daher, wo es nur geht, an den Referenten anbinden. Das wird auch oft genug von Schüler_Innen eingefordert, wenngleich in Formen, die ihrerseits erst von den Lehrenden gedeutet werden müssten. Hier mal meine persönliche Deutung: Der zeigende Finger der Lehrperson geht immer in die Welt hinaus, aber die Schüler_Innen sehen sich oft genauer den Finger an, statt den Ort, auf den der Finger deutet. Dieser Vorgang setzt in der Sekunde ein, in der die Schüler_Innen keinen Zusammenhang zwischen dem Lehrinhalt und ihrem eigenen Leben herstellen können. Geschieht diese ungünstige Blickänderung auf den Finger des Zeigenden, so sollten Lehrende das als eine unabsichtlich und unbewusst formulierte-, jedoch berechtigte Kritik auffassen. Es ist die unbewusste Aufforderung der Schüler_Innen an die Lehrperson, den Anschluss an ihre Lebensrealität herzustellen. Es reicht nicht, die Vorstellungskraft durch die bloße Benennung der Signifikanten zu entfachen. Eine gute Vermittlung besteht dann, wenn die Vorstellung (also das Signifikat), zielgerichtet geöffnet wird. Ein Weltausschnitt wird idealerweise durch alle zur Verfügung stehenden Sinne eröffnet. Naheliegenderweise funktioniert das am besten, wenn man den Referenten ins Klassenzimmer holt, oder das Klassenzimmer zum Referenten bringt (=dislozierter Unterricht).

Natürlich gestaltet es sich schwieriger, mit dem Referenten in direkte Verbindung zu treten, umso weiter weg sich dieser Referent befindet oder umso größer er ist. Die Signifikate werden dürrer, und damit verbunden schleichen sich stereotype Sichtweisen ein, bzw. Sichtweisen, die recht eindimensional bleiben. Alles kann Schule nicht leisten, und natürlich kann sie keine Reisen zum Nordpol finanzieren, oder Elefanten einfliegen lassen. Die vielleicht wichtigste Rolle spielt dabei erneut das Signifikat. Eine qualitativ hochwertige Bildung bedeutet vielmehr, als die Fähigkeit einer schnellen und präzisen Zuordnung von Signifikanten, ihren Bedeutungsraum möglichst weit aufzumachen und mit Kontext zu füllen. Ich persönlich glaube, dass ein voreiliges Schließen des Signifikats große gesellschaftliche Fehlentwicklungen nach sich zieht, und zb. für Verschwörungstheorien mit verantwortlich ist. Ich schließe mit einem Beispiel ab, dass die Bedeutung eines offenen Signifikats veranschaulichen soll.

Es kann der Eindruck entstehen, dass der hegemoniale Bildungskanon Menschen eine spezifische Leseweise aufdrückt: „Die Erde ist rund!“ Die allermeisten Menschen haben diese Leseweise akzeptiert. Alle Indizien (eine Zeichenart, nämlich die des „Index“, die in den Naturwissenschaften maßgeblich ist) deuten darauf hin, dass die Erde rund ist. Mittlerweile gibt es durch Fotos von Satelliten etc. auch ikonografisch deutbares Material. Dem Index gesellt sich das Icon hinzu, man spricht von einem fotografischen Beweis. Nichtsdestotrotz muss alles, was wir in Anbetracht der Größe des Erdplaneten an Argumenten anführen, symbolischer Art sein, denn wir können ihre Größe nicht sinnlich fassen, -zumindest kenne ich keinen solchen Menschen. Nun beruht das Symbol im Gegensatz zu Icon und Index bekanntlich auf gesellschaftlicher Übereinkunft und hat keinen Zusammenhang mit seinem Referenten. Verschwörungstheoretiker_Innen vollziehen an dieser Stelle eine semiotische Operation, indem sie auch den Zeichenarten ,Index‘ und ,Icon‘ ein willkürliches Verhältnis zur Realität unterstellen. Mein Gedanke ist, dass sie diese Operation mit dem (unbewussten) Drang vollziehen, das Signifikat zu öffnen, dass ihnen geschlossen, monadenartig, vermittelt wurde. Die ,Flat-earther‘ sind jene Schüler_Innen, die sich den zeigenden Finger ansehen, statt den Ort, auf den der Finger zeigt. Um Verschwörungstheorien zu vermeiden ist es daher nötig, die Rest-Ungenauigkeit immer mit zu erwähnen, die das Verhältnis von Signifikat und Referent einschließt. Demnach sollte man statt zu sagen „Die Erde ist rund“, vielmehr betonen, dass es ein überwiegendes Einverständnis darüber gibt, das die Erde als annähernd rund zu beschreiben ist, einer unten und oben abgeflachten Kugel ähnelt, die, wenn man ihr sehr nah kommt, unzähligen Erfahrungsberichten zufolge auf ihrer Oberfläche lauter Krater und Gipfel und eine lebendige Kruste aufweist.

Glossar

Semantik: Semantik ist die Lehre der Bedeutung. Sie ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Bedeutung und mit den verschiedenen Beziehungen zwischen Signifikant und Signifikat.

Referent: Das wofür der Signifikant steht, also die Realität, bzw. ein Phänomen/eine Erscheinungsform innerhalb der realen Welt. Das Symbol „Hund“ steht für das tatsächliche, physisch reale bellende, feuchtschnauzige und haarige Phänomen, das deutschsprachige Menschen höchstwahrscheinlich mit dem Symbol „Hund“ in Einklang bringen.

Signifikant: Die symbolische Darstellung eines Phänomens der Realität. „Hund“ ist ein Symbol, und stellt, wenn man das Symbol lesen kann, eine Analogie zum Referenten her.

Signifikat: Das Vorstellungsbild, welches sich ergibt, wenn ihr, werte Lesende, das Wort „Hund“ lest, also das Konzept/die Vorstellung, die sich jede/r Einzelne von einem Symbol macht, und die zwischen der realen Erscheinung des Hundes und dem Symbol „Hund“ vermittelt. Das Signifikat schillert, soll heißen, seine Gestalt ist nie festgeschrieben, sondern abhängig vom persönlichen Erfahrungshorizont, von kulturellen und emotionalen Kontexten, in denen sich jemand befindet, die oder der über das Symbol „Hund“ stolpert. Ich persönlich liebe das Signifikat.

Symbol: Diesen Begriff verwende ich in zwei Weisen:

1.     Alle Zeichenarten sind Symbole. Man liest, schreibt, spricht und denkt in Symbolen. Wenn ich von der symbolischen Ebene spreche, meine ich die Einheit aus Signifikant und Signifikat. Diese Einheit besteht auch bei Zeichenarten, die nicht Symbol genannt werden, wie etwa Index und Icon.

2.     Symbol ist eine der drei Zeichenarten Symbol, Index und Icon. Das Symbol ist ein Zeichen, dessen Beziehung zum Referenten auf sozialer Vereinbarung beruht. „Hund“ hat keine natürliche Verbindung zu seinem Referenten, was man zb. daran sieht, dass das Symbol für Hund im Französischen ganz anders aussieht und ausgesprochen wird: „Chien“.

Index: Ein Index ist ein Zeichen, das eine physikalische Verbindung zu seinem Referenten aufweist. Die Pfotenabdrücke des Hundes im Sand sind ein Index für dessen Anwesenheit. Index und Icon sind Zeichen, die zb. in den Naturwissenschaften bedeutend werden. Funfact: Index kommt aus dem Lateinischen und heißt Zeigefinger.

Icon: Ein Icon ist ein Zeichen, das sich in einem Verhältnis der visuellen Ähnlichkeit zu seinem Referenten befindet. Die sprachliche Analyse von gegenständlicher Malerei wird deshalb auch Ikonografie genannt. Alle diese Zeichen können auch zugleich auftreten, etwa in der Abbildung eines Hundes. Ein Hund kann als Icon einfach einen Hund wiedergeben, kann aber in bestimmten Kontexten zugleich auch als Symbol (zb. der Treue) gelesen werden. Rauch kann als Index für Feuer angesehen werden, er kann aber einfach nur Rauch darstellen und damit als Icon auf Rauch verweisen, und kann schließlich ein Symbol im Sinn eines Rauchzeichens darstellen.

(1) Ich finde die Frage zumindest diskutabel, ob Kinder in Heimerziehung eine holistischere und selbstbestimmtere Erziehung erfahren, aber an die methodische Tiefe und Breite der Deutungsweisen von Welt kann Heimerziehung nie auch nur ansatzweise herankommen. Diese Kritik richtet sich bspw. an folgende populäre Influencer und deren Fans:

https://vm.tiktok.com/ZGe6Lh5A6/

https://vm.tiktok.com/ZGe6LacSc/

(2) bei Umberto Eco ist von der Auflösung semantischer Felder die Rede: „Einführung in die Semiotik“, Willhelm Fink Verlag Paderborn 2002, S.93-95