Wir bauen an einer Murmelbahn, weil der Direktor ein Preisausschreiben weitergeleitet hat, in dem Preise im Wert von 4000 € winken. Den Wortlaut “im Wert von…” genau zu nehmen, gelang den Kinder nur sehr schwer, weil die Summe von 4000 zu groß klang, um nüchtern zu bleiben, und sich über unwichtige Details den Kopf zu zerbrechen. Ich fragte meine SchülerInnen: Wollt ihr diese Murmelbahn bauen? Die Reaktionen waren erst gemischt. An dem Wettbewerb dürfen auch Universitäten teilnehmen, allerdings gibt es Gewinner in verschiedenen Alterskategorien. Manche der SchülerInnen hörten nur den ersten Teil dieses Satzes und meinten resigniert, -das können wir eh nicht gewinnen. Ein anderer Schüler meinte: “Ja! machen wir das!, weil dann müssen wir nicht was anderes machen, was uns keinen Spaß macht”. Was dieses Andere gewesen wäre, ließ er offen. Er konnte es ja gar nicht wissen, und noch weniger, ob das dann Spaß gemacht hätte oder nicht. Auf der Basis dieser mehr oder weniger rationalen Argumente stimmten die SchülerInnen dem Vorschlag der Teilnahme schließlich zu. Allerdings separierten sich zwei Mädchen und gründeten eine eigene Projektgruppe. Erst hatten sie mich noch gefragt, ob sie das dürfen. Ich überlegte, und meinte, es wäre mir nicht so recht, aber wenn sie darauf bestehen, könnten sie das machen. „Warum?“ fragten sie, und ich meinte, es würde sich leicht asozial anfühlen. Das Wort “asozial” trug fortan die Diskussion. Auch ich selbst vereinnahmte es, als mich eine dritte Schülerin fragte, ob sie bei den beiden Mädchen mitmachen darf. “Du willst bei den A-Sozialen mitmachen?” soll ich gefragt haben. Das Argument der “Anführerin” war, dass sie ihre eigenen Ideen in einer kleinen Gruppe viel besser umsetzen könne, als in einer großen Gruppe. Ich hielt dagegen, dass die große Gruppe davon profitieren würde, wären die drei Mädchen dabei, sind das doch die selbstständigsten und motorisch intelligentesten Schüler_Innen in diesem Verband. Ihre Teilnahme am gemeinsamen Projekt wäre dabei aber nicht nur für die anderen profitabel, sie würden stattdessen auch selbst dabei lernen, und zwar, Kompromisse einzugehen, und vielleicht nicht das beste Ergebnis zu erzielen, dafür aber den Wert der Gemeinschaft zu schätzen. Sie meinten dagegen, es ginge doch darum, die beste Murmelbahn zu bauen, um den Preis zu gewinnen. Ich meinte wiederum dagegen, der Preis wäre absolut zweitrangig, es ginge stattdessen darum, etwas spannendes, lustiges und lehrreiches zu erleben. Typischer Lehrer-Schüler_Innendialog…
So verblieben wir, und in der nächsten Einheit begannen wir mit dem Bau. Der Aufgabe, ganz viel Karton mit zu bringen, war neben den drei Separatistinnen niemand nachgekommen, bloß zwei stille, schüchterne und meist sanft lächelnde Mädchen hatten je zwei Klopapierrollen und eine leere Taschentuchbox mitgebracht. Die meisten Schüler_Innen kommen doch offenbar mit der Erwartungshaltung in den Unterricht, dass sie bespielt werden, ohne dazu irgendetwas beitragen zu müssen. Aufmerksame Lesende merken hier bereits, dass mich eine derartige Nichterfüllung der Aufgabe ziemlich „angepisst“ macht. Doch wie einem Schüler angesichts der Separatistinnen einfiel, er würde jetzt auch gerne seine kleine Splittergruppe bilden, riss mir kurz der Faden, und ich sagte sehr laut (ich wollte nicht ,schrie’ schreiben): „Und mit welchem Material arbeitet ihr dann? Zur Selbstverantwortung kommen nämlich auch die Pflichten mit einher, und wie ich sehe, habt ihr ,0‘ Material dabei!“ Wie es immer ist, wenn ich mal laut gewesen bin, war die Stimmung leicht gekippt, und den Rest der Doppelstunde verbrachten wohl alle, mich eingeschlossen, damit, zu verstehen, welche Rolle sie hier eigentlich inne hatten und welchen Weg sie hier eigentlich gehen wollen.
Inzwischen ist eine Woche vergangen, und siehe da: In der heutigen Doppelstunde war eine ausgelassen gute, und gleichzeitig produktive Stimmung. Ausnahmslos alle Schüler_Innen stürzten sich regelrecht auf die Arbeit. In der zweiten der beiden Stunden war ein Schüler zu beobachten, der sich zu den Separatistinnen setzte und nicht mehr allzu viel Lust zu haben schien. Es geht diesem Schüler öfter mal so und in der Regel lasse ich ihn dann in Ruhe. Sein Kollege ist allerdings so drauf, dass er mich dann darauf aufmerksam macht, sozusagen „petzt“: „Hr Professor, der A. macht nie mit!“. (Tatsächlich glaube ich ja, dass es sich um Eifersucht handelt, denn das sind eigentlich beste Freunde. Vor zwei Jahren hatte J. im Zuge eines Wahrheit-oder-Pflicht Spiels gesagt, von allen Jungen in der Klasse würde er am ehesten A. küssen.) Mit diesem Hintergrundwissen formulierte ich es so: “J. will dass ich dir sage, du sollst mit machen!” Darauf antwortete A.: „Jetzt soll ich auf einmal wieder mit machen, dabei mach ich doch sowieso nur alles falsch!“ So war das also! A. war nicht einfach vom Projekt gelangweilt, wie ich gedacht hatte. Er war demotiviert, weil Mitschüler seinen Beitrag mißbilligt hatten… wie oft gibt es wohl dieses Missverständnis: SchülerInnen machen etwas aus dem Grund nicht, dass ihnen gesagt wird, dass sie es falsch machen oder nicht können, und nicht, weil sie bspw. einfach faul sind.
Ich schlug zur Lösung des Konflikts vor, dass J. vielleicht nicht recht damit hatte, dass A. etwas falsch machen würde, und dass A. in diesem Punkt J. eventuell keinen Glauben schenken dürfe. Damit hatte ich das richtige gesagt. A. fiel auf J. ein: „Ja eben, ich hab gar nichts falsch gemacht!“ und J. meinte: „Ich habe nie gesagt, dass du was falsch gemacht hast!“. Dann arbeiteten sie wie ehedem gemeinsam weiter. 20 Minuten vor Ende begab ich mich mit einer Gruppe aufgeregter Schüler_Innen mit so viel Kartons wie wir tragen konnten, in den Keller, wo wir in den kommenden Wochen die riesige Murmelbahn aufbauen würden. Einige waren noch nie da unten gewesen, die anderen kannten ihn von einem Kollegen von mir, nämlich jenem, der gerne laut und bei offener Türe zwischen den Pausen Musik hört, einen Ferrari vor dem Schulhaus parkt und einen Pin-Up Kalender in seinem Kammerl hängen hat. Dieser Kollege hatte den ausgestopften Fuchs, das Frettchen, das Eichhörnchen und den Uhu an die Ecken eines mit Kreide auf den Boden gezeichneten Sternes gesetzt und in der Mitte dieses Sterns 20 Teelichter angezündet, und hernach dort mit den Schüler_Innen so etwas wie ein Friedensritual abgehalten. Jedenfalls schätzen die Kinder diesen Lehrer sehr, und ich verstehe schon, warum. Nun waren wir da unten, und die grauen Betonwände wurden von den Schüler_Innen offensichtlich als mystisches unterirdisches Reich interpretiert, anders ist die Aufregung nicht zu verstehen. Und als wir wieder oben waren, ging die Doppelstunde bereits in die letzten 5 Minuten. Für einen derart knappen Zeitraum empfehle ich Lehrendenkolleg_Innen folgende Strategie: Einzelne Schüler_Innen mit spezifischen Aufgaben versehen, zb.: „V., du sammelst die Cuttermesser ein, M. du stellst die Stühle rauf“, usw. usw. Es läuft dann wie am Schnürchen.
Als am Ende nach Läuten immer noch drei Leute im Raum waren, war ich doch verwundert: Die Separatistinnen!! Sie waren geblieben, um sich zu beschweren. Dazu ist zu sagen, dass wir uns schon recht gut kennen und eine ausgiebige Gesprächskultur miteinander entwickelt haben. Trotzdem finde ich es immer noch mutig von ihnen, mich zur Rede zu stellen. Zuerst unsicher, aber mit jedem Satz selbstbewusster listeten sie auf, was sie störte, angefangen beim Wort „asozial“. Ich meinte, ich hätte sie nicht asozial genannt, sondern bloß vorgeschlagen: „…ist das nicht asozial? (sich von der großen Gruppe zu separieren)“ worauf eine der drei wie in einem juristischen Setting meinte: „Aber zu mir haben Sie gesagt: „Du willst zu den Asozialen wechseln?““. Daran konnte ich mich nicht erinnern, aber es klingt wie etwas was ich gesagt haben könnte. Ich sagte, dass ich das bereue und dass es mir leid tut, wenn ich das gesagt habe. Ich gestand ihnen zu, dass das Wort ,asozial‘ über die Linie schießt. Ich gab aber doch zu bedenken, dass es nicht nur um die Entfaltung individueller Fähigkeiten ginge, sondern anlässlich einer Gruppenarbeit auch darum, Kompromisse einzugehen etc. Wir sprachen hier ein wenig hin und her (M. meinte zb., die Idee eines Loopings hätte in der großen Gruppe nicht umgesetzt werden können, worauf ich: Wieso?) jedoch hatten die drei noch einige weitere Punkte aufs Tableau zu werfen.
“Der Materialbeitrag war von allen zu zahlen, aber wir haben von Ihnen kein Material bekommen!” (Gemeint war der Karton, den ich aus den Mülleimern holte, bzw. die Kartonröhren, die ich vom Gerstaecker geschenkt bekommen hatte, und die ich mühsam in meiner Freizeit in die Schule geschleppt hatte, in der richtigen Erwartung, die Schüler_Innen würden (nahezu) nichts mit bringen.)
“Sie arbeiten bei der großen Gruppe mit, aber bei uns nicht!” (Ich hatte ihnen mehrfach meine Hilfe angeboten, und bekräftigte das auch jetzt nochmals. Die Kids wiederum schlugen die Hilfe erneut aus. Es ging ihnen wohl bloß um eine generelle Bereitschaft zur Hilfe, die sie offenbar nicht gespürt hatten).
Schließlich verließen sie mich mit beidseitigem Einverständnis über unser gegenseitiges Wohlgesinnen. Und jetzt rate mal, wie alt diese Kinder sind- nämlich dreizehn Jahre alt! Ich bezweifle sowohl, dass ich mit 13 Jahren den Mut aufgebracht hätte-, als auch, dass ich organisiert genug gewesen wäre, eine solch gegliederte Kritik vorzubringen, und die Sache völlig unaufgeregt über ein Gespräch zu erledigen.