Ein Schüler der ersten Klasse erzählte mir heute: “Eigentlich wollte ich Animierer werden, aber meine Eltern verbieten mir das”. Seine Familie ist muslimisch, und dort wird das Bildverbot offenbar sehr streng genommen. Ich meinte, dass das nicht sehr gut ist, wenn seine Eltern ihm das verbieten, und er deshalb nicht das machen kann, was er gerne machen will, worauf er antwortete, dass es nicht seine Eltern sind, sondern das es im heiligen Buch so geschrieben steht.
So wie schon einige Jahre vorher, als in einem tiefer führenden Gespräch mit einem Schüler klar wurde, dass “Gott nicht will, dass Männer miteinander Sex haben” war ich auch jetzt wieder sprachlos, umgewappnet, fühlte mich unvorbereitet auf so eine Problemstellung.
Die eurozentrische Kunstpädagogik kreist ums Gesicht, das ist so omnipräsent wie nur irgendwas. Gilles Deleuze sagte diesbezüglich, dass das Gesicht an sich etwas rassistisches ist. Ich weiß nicht genau wie er das meinte, aber in diesem Zusammenhang treten jedenfalls einige kulturell und religiös schwer vereinbare Unterschiede hervor. Wie soll in der so beliebten BE-Aufgabe, -zeichne deine/n Sitznachbar/In vorgegangen werden? Soll der Religion das Vorrecht eingeräumt werden, die das Porträt zeichnen verbietet, und damit auch einen so wichtigen Teil europäischer Bildtradition?
Ich hatte bislang gedacht, dass zumindest das Portraitieren (hoher Würdenträger, Passfoto?) in der islamischen Kunst erlaubt wäre, und stieß hier wiedermal an die Grenze meines Bildungshorizontes. Mein Schüler verneinte das nämlich strikt und gab die verwunderlich genaue Erklärung,- “Es wäre erlaubt, Figuren, Tiere, Menschen abzubilden, wenn man diese dann auch zum Leben erwecken können würde, aber da dies niemandem möglich ist, darf das auch niemand.”
Vielleicht kommen den kunstpädagogischen Ambitionen hier abstrakte Tendenzen entgegen. Sind die „Frauen von Avignon“ von Picasso Abbildungen von Figuren? Wohl noch halbwegs, aber wie steht es um noch radikalere Dekonstruktionen figurativer Darstellungen? Das Auge für sich ist kein lebendiges Wesen, und es gibt auch kein Wesen, dessen Augen übereinander angeordnet sind, dessen Mund den höchsten Ort einnimmt, und dessen Ohren aus dem Hintern wachsen… die Dekonstruktion des Gesichtes zerstört den Abbild-Charakter. Mein Schüler könnte also ein Animator dekonstruierter Wesen sein.
Hannah Höch, Siebenmeilenstiefel, um 1934, Photomontage
Eine Figur, die so rennt, wie die von Hannah Höch dargestellte, stünde nicht im Widerspruch zum göttlichen Gebot(?) In der Aufgabe “Zeichne deine/n Sitznachbar/in” wäre die dekonstruktive Lösung dieses Vorhabens so zugleich die konservativere im Sinn der islamischen Religion und die progressivere im Verständnis europäischer Kunstgeschichtsschreibung.
1 Stunde später:
Ich erinnere mich an den muslimischen, hochangesehenen Künstler Kamāl ud-Dīn Behzād. Seine Illustrationen des Koran sind gefüllt mit Menschendarstellungen.
Advice of the Ascetic, Kamāl ud-Dīn Behzād (1460–1535)
Ich gehe davon aus, dass es verschieden strenge Auslegungen des Koran gibt. Eine Fachkollegin dazu: “Wir leben in Österreich, und ich werde mich sicher nicht an ein Bildverbot halten. Für den Schüler gilt die Aufgabenstellung genauso wie für alle anderen!” Eine ganz so klare Antwort darauf habe ich nicht. Selbstverständlich bin ich auch nicht gewillt, für mich persönlich ein Bildverbot anzuerkennen, aber ich kann den Zwiespalt auch nicht einfach ausblenden, dem ich meinen Schüler damit aussetze: Wenn er die Aufgabenstellung nicht erfüllt, wird ihm das als nicht erbrachte Leistung angerechnet. Wenn er die Aufgabenstellung erfüllt, bricht er die “heilige” Regel, die ihm seit Kindheit an beigebracht wurde. Die Lehrperson fordert den Schüler also implizit dazu auf, bereits als 11 Jähriger gegen die Familie und ihre Grundsätze zu rebellieren. Er kann in so einer Situation nur schlecht aussteigen.
Ich gehe also davon aus, dass die Lehrperson (mit dem Schüler) Wege finden muss, die Aufgabe so zu stellen, dass ihre Lösung den Schüler nicht in einen offenen und beistandslosen Konflikt schickt.
1 Woche später:
Ich hatte neulich einer Kollegin von diesem Vorfall erzählt, die daraufhin den bisher besten Vorschlag zum Umgang mit der Situation machte. Sie weiß Bescheid, schon weil sie muslimisch aufgewachsen ist, und konnte mir nun sagen, das in Dingen Bildverbot nichts im Koran geschrieben steht. Ich sollte den Schüler also beauftragen, die genaue Stelle im Buch ausfindig zu machen. Meine Kollegin: “Sag ihm: Zeig mir, wo das geschrieben steht! Es würde mich interessieren.” An der Formulierung empfinde ich dabei so überzeugend, dass der Schüler in erster Linie mir einen Gefallen zu machen scheint, doch aber für sich selbst die Instrumente einer kritischen Reflexion kennen und nutzen lernt.
Künstlerinnen, die im Zwischenfeld von europäisch und islamisch geprägter Kunstgeschichte tätig sind: Monir Shahroudy Farmanfarmaian Samta Benyahia Sherin Guirguis Shirin Neshat