Im Juni dieses Jahres ging mein erstes Unterrichtsjahr an der Amerlingschule zu Ende und damit hatten sich einige Erkenntnisse darüber ergeben, wie die Arbeit in einer Fachgruppe aussehen kann. Von besonderer Bedeutung war dabei für mich die Frage, wie die Räumlichkeiten bekleidet sein sollen, um ein möglichst gutes Lernklima zu schaffen, das heißt, wie sollen die Wände aussehen, um möglichst inspirierend, einladend, zugänglich zu wirken.
In ihrem Buch “Becoming a Teacher” beschreibt Melinda D. Anderson den Weg der Lehrerin LaQuisha Hall, die in Baltimore/ USA in einer Brennpunktschule im Lernwillen ihrer SuS bemerkenswerte Erfolge erzielte. Dies gelingt ihr neben einer Vielzahl von Interventionen auch durch die visuelle Gestaltung der Unterrichts-Räumlichkeiten:
“Vibrant drawings of African masks cover the classroom's
wooden door and glass block windows. The entrance is a
tribute to Harlem Renaissance artist and educator Lois
Mailou Jones from a Black Baltimore teacher who always
dreamed of being a professional artist. Passing through the
doorway, Hall's artistic flourishes blend with an unapologetic
atmosphere of Black excellence. The Western canon of dead
white male poets is scuttled in favor of Maya Angelou's poem "Phenomenal Woman" hanging as a poster that deconstructs
the work's themes of female empowerment. Neon-blue bins
filled with young adult novels by some of the hottest Black and
Latinx writers- Elizabeth Acevedo, Jason Reynolds, Daniel
José Older, Angie Thomas, and Baltimore native Kwame
Alexander--sit on a windowsill below Langston Hughes's
jarring poem "A Dream Deferred." Standard markings of a
high school English classroom surround the space: vocab-
ulary words, the rules for literature circles, and a handwritten
sign nudging readers to practice critical thinking.
The attention to detail signals that this is a place where
the teacher's work goes beyond academics, and beyond the
classroom.”
Melinda D. Anderson: Becoming a Teacher. Simon & Schuster 2020. S.3
Was für Halls Englisch Unterricht gilt, ist für das Fach Bildnerische Erziehung, dass das ganze visuelle Spektrum abdeckt, von noch größerer Bedeutung. Die visuelle Erfahrung des BE-Saals macht einen Unterschied darauf, wie SuS das Fach wahrnehmen. Was da hängt oder nicht hängt, beeinflusst das Vorstellungsvermögen davon, was bildnerisch ist und sein kann.
Die Bandbreite möglicher Gestaltung erstreckt sich dabei von ganz weissen Wänden bis zu Schauwänden, vollgeklebt von Postern, Zetteln, SuS Arbeiten, etc. Letztlich ist das Klassenzimmer alles in einem: Produktionsstätte, Reflexionsort und Präsentationsgelegenheit bzw. Ausstellungsort. Geleitet von diesen Überlegungen postete ich im Juni eine Umfrage, -leider mit Rechtschreibfehler behafteten handicaps versehen, darüber, welche Version eines Klassenzimmers Junglehrende (nicht öffentliche facebook Gruppe mit 660 Mitgliedern) bevorzugen.
Darin stimmten 32 Lehrende für die Version eines Klassenzimmers, das mit Material und Inspiration angereichert ist, und 4 Lehrende für einen leeren Saal mit weissen Wänden. Hinzu kamen zwei Lehrende, die sich in der Kommentarspalte für eine Mischung aussprachen.
D.M. wünscht sich eine “…weisse Box, sichtbar gefüllt mit Inspiration und Material,” denn: “Ganz wild und frei und voll halt ich auch nicht aus...”. Sie fügt hinzu: "Vergnügen liegt irgendwo zwischen Chaos und Ordnung" fällt mir dazu ein. Vielleicht passt das auch zu Kreativität.”
A.S. schreibt: “Kann mich da nicht so richtig entscheiden und wäre für eine Mischung....dann kann man den Blick so schweifen lassen, wie es einem gut tut”, so wie… “tatsächlich haben wir da eine Art Mischung - durch blaue Kastenflächen viel „Ruhe“ und nur wenige Poster - sonst Fenster mit Himmel, da 3. Stock...diese Luft finde ich toll. Also bei uns eher Blue Cube.”
Ich schätze, eine Mischung trifft wohl auf die meisten BE-Klassenzimmer zu. Meine persönliche Erfahrung dazu ist, dass die visuellen Anreize immer sehr stark von den SuS rezipiert werden, diese also ein mächtiger Faktor sein können, wenn es um Inspiration und Motivation geht. “Machen wir auch mal sowas”, oder negativ formuliert, “Warum machen wir nicht so was”, ist oft zu hören, verbunden mit einem Finger, der auf ein Poster zeigt etc. Solche Forderungen sind natürlich für die Lehrenden schwierig, die meist ihr strukturiertes Programm nicht unterbrechen wollen, oder den Stoff der Kollegin aufgrund mangelnden Wissens nicht machen können oder wollen. Dies bringt mich zur politischen Dimension, die die visuelle Ausgestaltung des Klassenzimmers mit sich bringt. Visuelle Anreize können demnach die Mitbestimmung der SuS fördern und fordern, aber auch insgesamt ist das Setting politisch: Ein white Cube ist jedenfalls die moderne Idee, die Illusion einer von der restlichen Welt unabhängigen Kunst zu installieren. Die ‚White Cube‘-Praxis ist dabei offensichtlich problematisch, weil sie der Kunst den Bezug zur Lebensrealität nimmt, den herzustellen ein ganz wesentliches Unterfangen des Kunstunterrichts sein sollte. Den White Cube Charakter trägt die Schule oft mehr oder weniger als Ganzes mit. All zu oft gerät in Vergessenheit, dass Schule sich mitten und direkt im Leben befindet und Lebensrealität verhandelt. Schule oszilliert zwischen safe space, white cube und black box und ist doch keines von diesen so richtig. Wie kann also Schule, und im Besonderen der BE Saal durch die visuelle Gestaltung einen Beitrag dazu schaffen, die schulische Durchflechtung mit der politischen Realität sichtbar werden zu lassen?
zu dieser Thematik weiter lesen: Musik in den Gängen