Bei der Semiotik geht es im Grunde um das Sinnliche und das Haptische. Denke nur an das Wort “Begriff”, in dem doch das Greifen enthalten ist, oder an das Wort “verstehen”, wo es klarerweise auch um die körperliche Erfahrung des Stehens geht.
Seltsam ist die Mehrdeutigkeit dieser Wörter. Sie zeigen an, was offensichtlich ist, aber das registriert nur, wer die Sprache gerade erst lernt. Wer die Sprache kennt, legt üblicherweise wenig Wert auf den Doppelgehalt von Wörtern wie „begreifen“ und „verstehen“. Noch offensichtlicher und zugleich komplexer wird es, wenn es um die Mikrostruktur von Verstehens-, und Bedeutungsprozessen geht. Da ist das Symbol, auf das wir uns als Gesellschaft einigen, um beispielsweise einen Hund, ein Flugzeug und die Stadt Wien auf einer Buchseite unterzubringen. Wer einen Text versteht, willigt in ihn ein. Eine Form der Einwilligung ist es bereits, wenn angesichts des Wortes „Hund“ die Vorstellung eines Hundes im Kopf entsteht, und eine Verbindung zu jenem Phänomen hergestellt wird, das wir mit ziemlicher Sicherheit alle gleichermaßen als Hund bezeichnen würden, sähen wir es im Park an der Leine eines Menschen. Natürlich kann man das Halten von Hunden ablehnen, aber in den Text hat man sobald eingewilligt, als man ihn verstanden hat, und erfolgreich imaginäre Verbindungen zur Realität geleistet hat.
Fraglich wird das aber schon, wenn es sich um Peter Weibl an der Leine von Valie Export handelt. Ist das ein Hund oder ein Mensch? Oder muss es sich um eine andere Seinskategorie handeln, etwa um Kunst?
Was ist das Wesen eines Hundes? Immanuel Kant hat diese Frage an der Rose studiert, und kam dabei zu keinem Wesenskern dessen, was eine Rose ist (vgl. Immanuel Kant, 1787). Es gibt nichts essenziell rosenhaftes an einer Rose, so wie es keine Essenz von Hund gibt. Letztlich, so stellt sich heraus, ist das Wesen eines Dings sein Name, das heißt, die Vereinbarung, ähnliche Phänomene unter dem immer selbem Wort zu subsumieren, wie arbiträr dieses Wort in seinem Verhältnis zur Realität auch sein mag.
Die Kunst nimmt hier den Platz des Schelms oder der Schelmin ein, hält sie sich doch immer wieder gerade nicht an die Vereinbarungen und gibt Phänomenen Bedeutungen, die ihnen noch nie gegeben wurden, und die falsch sind, aber ungewohnt, und das ist schließlich eine eigene Qualität. (1) Das gilt jedenfalls für viele künstlerische Arbeiten, die seit Surrealismus und Dadaismus entstanden sind.
Das Spiel von Signifikat und Signifikant bedarf nicht unbedingt der schriftsprachlichen Symbole. Ein Fleischkleid von Jana Sterbak, eine aus Zucker gegossene Sphinx von Cara Walker oder ein durchlöchertes Haus von Gordon Matta Clark, eine Riesengabel von Claes Oldenburg, oder ein versteinerter Schinken von Jimmie Durham: So unterschiedlich diese Arbeiten in ihrer Aussage, in der Intention und Wirkung auch sein mögen, sie sind alle ein Spiel zwischen Signifikat und Signifikant. Sie sind dies, etwa bei Jimmie Durham insofern, als die Vorstellung des Begriffsbildes „Schinken“ gebrochen wird, und dem Phänomen plötzlich eine neue Bedeutung zuteilwird.
Auch eine Sphinx aus Zucker, ein durchlöchertes Haus und ein Kleid aus Fleisch verändern das, was bis dahin unter diesen Dingen zu verstehen und vorzustellen war. Das Wesen dieser Dinge verändert sich, sobald ihre künstlerische Umdeutung stattfindet. In diesem Vorgang offenbart sich die Deutungsmacht der Kunst.
Der schelmischen Kunstpraxis steht eine deskriptive und wissenschaftliche gegenüber, die von so disparaten Positionen wie Joseph Kosuth und Art&Language vertreten ist, aber auch Paul Cezanne und Gustave Courbet beherbergt. Das begrifflich/imaginäre spielt in ihren Arbeiten eine geringe Rolle. Sie wollen den Signifikanten möglichst nahe an die Realität heranführen, und sie versuchen dabei, die irreführenden Signifikate zu umgehen. Diesen Künstlern geht es vorrangig um das Aufzeigen des Verhältnisses vom Signifikanten zur Realität. Dabei handelt es sich weniger um ein spielerisches als um ein wissenschaftlich/experimentelles,- oder bei Courbet, -um ein politisches Vorgehen.
Wenn es darum geht, Signifikat und Signifikant ins Gespräch mit Jugendlichen einzubringen, wird schnell ein Bild wie die ikonografische Analyse der Arnolfini-Hochzeit vorgeschlagen, mit Icons, Symbolen und Indizes. Das ist ja schön und gut, aber mir scheint, dass das nicht, oder jedenfalls zu kurz, greift. Die Arnolfiniverlobung ist vielleicht doch zu alt, um als Beispiel zu dienen, dass an die heutige Lebensrealität Jugendlicher anschließt, und mit der bloßen Einteilung und Benennung von Zeichenarten ist auch noch kein Weg aus dem grauen Alltag des Teenagerdaseins gewiesen. Der unwiderstehliche Reiz der Semiotik lässt sich so nicht befriedigend einfangen.
Eventuell sollte es mit Saussure versucht werden: Bedeutung entsteht durch Differenz. Ein Buchstabe ist nur zu erkennen und zu verstehen, weil sich sein Symbol und sein Klang von anderen Buchstaben unterscheidet. Wären alle Buchstaben gleich, wäre Verständnis sofort unmöglich.
Gilt das auch für Menschen? Stuart Hall zufolge ist die Praxis des Unterscheidens bedeutsam für das Verständnis von Identität. (vgl. Hall 1997) Wohl deshalb setzen sich männliche und weibliche Jugendliche fast immer getrennt voneinander in den BE-Saal. Das ist ziemlich seltsam. Sie kleiden sich untereinander sehr ähnlich, und grenzen sich zum anderen Geschlecht als Gruppe ab. Geschlecht wird zu einer Differenz, die die Bildung von Gruppen nach sich zieht.
Wir erleben dabei stets von neuem, wie die arbiträre Vereinbarung, unter „männlich“ eine Sammlung an körperlichen Erscheinungsformen und Verhaltensweisen zu verstehen, die Realität strukturiert. „Sprache macht Realität“, vor allem durch die Praxis des Unterscheidens.
Als ich das letztens in meiner Unterrichtsstunde mit den 18-Jährigen so platzierte, kam sofort eine heißblütige Diskussion auf. Vor allem eine Schülerin, die ich als feministisch interessiert wahrnehme, argumentierte, die symbolische Ebene würde an den Unterdrückungsverhältnissen nichts ändern. Ihr nach wäre es nicht wünschenswert, das binäre Geschlechterverhältnis abzuschaffen, es bräuchte nur die Abschaffung der Unterdrückung innerhalb dieses Verhältnisses.
Seit dieser Stunde fallen mir ständig neue und stets noch stärkere Argumente dazu ein, wie die symbolische Ebene Realität erschafft, oder vielleicht besser gesagt, wie sie Realität strukturiert: Mir fiel zb. Caspar Hauser ein, bzw. die hypothetische Situation, ohne Sprache aufzuwachsen. Genau das hieße es ja, ohne die symbolische Ebene aufzuwachsen. Man stelle sich vor, wie so ein Leben sich gestalten würde, in einer Welt, in der man weder versteht, noch zu verstehen geben kann. Das wäre in der Tat ein Zustand großer Machtlosigkeit.
Als Sprachloser wäre es nicht möglich, Klimaaktivist oder Rechtsanwalt oder Präsidentin zu werden, denn weder wäre es möglich solche Konzepte überhaupt zu denken, noch, so einen Willen zu artikulieren. Die symbolische Ebene ist gleich nach der Fähigkeit der Wahrnehmung, die wichtigste Ausgangslage, um gesellschaftliche Realität mit bestimmen zu können.
Das ist eine so einleuchtende Tatsache, dass sie irgendwie schwer zu begreifen ist, -ein seltsamer Widerspruch! Sprache, (die symbolische Ebene ist die Summe aller Sprachen) ist für den Menschen, wie Wasser für den Fisch: Erst wenn der Fisch aus dem Wasser geholt wird, versteht er dessen Bedeutung (vgl. Thorsten Meyer zit. nach Eva Sturm 2011). Da in der Schule hauptsächlich Sprachen unterrichtet werden (die Sprache der Mathematik, die Sprache der Bilder, die Sprache der Musik, die Sprache der physikalischen und chemischen Realität usw.) hält sich wohl die zähe Struktur einer Fächertrennung in Raum, Zeit und Disziplin. Die Struktur der Schule ist immer noch eine Struktur des 19. Jahrhunderts, einer Hochzeit der neurotischen Unterteilung und Unterunterteilung und Unterunterunterteilung. Die Schule ist ein Differenzierungsanstalt, eine rein symbolische Institution. Und so fragwürdig das klingt, so ist sie doch der Ort, an dem die Struktur gesellschaftlicher Realität erlernt wird. Zu sagen, dass die symbolische Ebene keinen Einfluss auf die Realität hat, ist dasselbe wie zu sagen, dass man nicht an Schule und Bildung glaubt, -wohlgemerkt, dass man diesen Gedanken überhaupt nur auf der symbolischen Ebene formulieren kann.
(1) Bei Umberto Eco ist vom Verletzen des Codes die Rede: „Es bleibt nun noch die Möglichkeit von Botschaften zu bestimmen, die, teilweise nach den Regeln des Codes hervorgebracht, tatsächlich aber diese Regeln verletzen und sich als zweideutige Botschaften strukturieren.“ und etwas weiter: „Wie sind Botschaften möglich, die die Codes negieren? Die Analyse der ästhetischen Botschaft kann auf diese Frage Antwort geben und uns in die kreativen Dimensionen jedes semiotischen Systems einführen.“ (in Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, W.Fink Verlag, 9.Auflage, S.143-144, Siehe auch S. 163)
Quellen:
Immanuel Kant, 1787: Kritik der reinen Vernunft > https://www.philosophie.uni-muenchen.de/studium/das_fach/warum_phil_ueberhaupt/textbeispiel_auzug_kant_krv.pdf
Stuart Hall, 1987: The spectacle of the other > https://seminar580.files.wordpress.com/2015/04/hall-the-spectacle-of-the-other-pdf.pdf
Thorsten Meyer, zit. nach Eva Sturm 2011 in: Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze. Turia und Kant, Wien