Ich bin eindeutig für die Abschaffung der Noten!… Von den sechs öffentlichen Schulen, die ich besucht habe, behielt ich mir die Zeugnisse nur der einen, und das nicht wegen der Noten sondern weil darunter schriftliche Reflexionen standen, die zu lesen mir immer noch manchmal Freude bereiten. Die Ziffern erschienen mir hingegen immer schon abstrakt und willkürlich und stellten keine Motivation dar. Ich glaube, in der Form solcher standardisierter Sätze wäre das auch kaum aufweniger als die Notenfindung.
Meine Kolleg_Innen habe ich dazu auch befragt, und unter ihnen fiel die Einschätzung anders aus, etwa in der Richtung, dass Ziffernnoten und Reifeprüfung in Österreich einen hohen Stellenwert haben, sie zur schulischen Tradition gehören, Schüler_Innen dazu anstachelt, nochmal alles zusammen zu sammeln für einen letzten großen Anlauf, einen Leistungswillen beweisen zu müssen, zu welchem sie sonst nicht motiviert werden könnten. Dazu wären hier kleinere und größere künstliche Hürden eingebaut. Auf meinen Hinweis, motivationswissenschaftliche Ergebnisse hätten klar gezeigt, dass Lernen nicht extrinsisch durch Erwartungen motiviert werden sollte, sondern intrinsisch durch die Förderung innerer Anlagen, gab es eine weitreichende Übereinstimmung darüber, dass letztere Vorstellung nur durch eine grundsätzliche Reformierung des Bildungssystems wirklich möglich wäre. Eine Kollegin gab nun ein Beispiel einer 5. Klasse, die sich gerade auf den Kopf stellen würde: Die Schüler_Innen dieser Klasse hätten nicht vordergründig ihren Lernfortschritt im Selbstprogramm, sondern in erster Linie die Provokation der Lehrperson, der sie sich gegenüber sehen. Würde gegen solche Tendenzen kein Druckmittel wie Ziffernnoten mehr bestehen, so meine Kollegin, könnte man den Unterricht dort überhaupt vergessen. Ich möchte aber doch in den Raum stellen, dass es sich gerade umgekehrt verhalten könnte, und diese 15 Jährigen gerade aus dem fehlenden Gefühl eines Anschlusses an die Lebensrealität heraus, ihr Interesse an der Schule abweichend zur erwarteten Vorstellung entwickeln.
Die Ziffernnote ist ein Monolith. Sie ist die Verkörperung einer längst überholten Idee eines Wesenskerns, und soll die letzte und absolute Konsequenz einer einjährigen kontinuierlichen Beobachtung sein. Diese Abstraktion übt noch immer eine naive Faszination auf Kinder wie auch auf Erwachsene aus, und ich behaupte, sie ist ein Überbleibsel eines Denkens, welches dem Absolutismus entspringt. Der Absolutismus verschuldet einen Fimmel für das Ideelle, und darin das Mathematische, das in der Renaissance bereits begonnen hat, im Absolutismus aber seinen ersten theoretischen Höhepunkt erreicht, und noch lange in die Aufklärung hinein wirkt, etwa in Kants A-Priori Theorie oder Hegels einflussreiches Synthesendenken. Aus dieser Denkrichtung ergibt sich immer eine hierarchische Pyramide, die nach oben hin in einer zentralen, abstrakten Instanz zuläuft, denn wenn sich These und Antithese immer in der Synthese auflösen, so ergibt das in einer fortschrittsgetriebenen Wissenschaftsgesellschaft folglich immer weniger Thesen, dafür eine immer geschliffenere Version der immer allumfassenderen Synthese. Wer wartet schließlich nicht auf die Synthese aus String-Theorie und Quantengeometrie? Die gelebte Realität hat mit dieser weit entwickelten Abstraktion wenig zu tun, oder doch? …vielleicht bin ich hier selbst der Naive, schreibe ich dies doch gerade in ein hypertechnologisches Endgerät, -das letzte Produkt einer hegelianisch betriebenen Wissenschaftsgeschichte? Darüber muß durch die Frage entschieden werden, ob für das allgemein als besser anerkannte zeitgenössische Leben die Technologie verantwortlich zeichnet, oder doch vielmehr die geistige Evolution bzw. der Prozess der Zivilisierung, wie Norbert Elias ihn beschrieben hat. Für die Anhänger der Technologie liegt die Antwort auf der Hand: Die technologische Innovation hat die geistige Evolution nach vorne katapultiert. Die Antwort der Frankfurter Schule lautet dagegen: Die von technologischer Innovation getragene geistige Evolution hat demnach auch zum Holocaust geführt. Um eine ausgewogene, ausführliche und umfängliche geistige Evolution kann es sich also zumindest bis 1945 nicht handeln.
Wie man hier auch immer weiter denken möge, -ich argumentiere für den pädagogischen Rahmen mit dem Anschluss an die Lebensrealität. Schule muß für die Schüler_Innen direkten Sinn ergeben, nur dann können die intrinsisch tiefgründigen Lernerfahrungen gemacht werden. Es wird ihnen auch so erst der Mut ermöglicht, ihr eigenen Verstand zu bedienen, wohingegen die Arbeit an einem abstrakten Ziel, bspw. einer Ziffernnote, die Bedienung des eigenen Verstandes behindert.