Jenseits des Bildrandes
Jenseits des Bildrandes
1.Kapitel: Über den Bildrand hinaus denken
Wer fotografiert, weiß, dass es auf den Ausschnitt ankommt. Was soll drauf sein, was nicht? Und klarerweise kommt es vor, dass man sich gerade für den uninteressanten Teil entscheidet. Und das kann ebenso für die Malenden der Kunstgeschichte so sein.
Über den Bildrand hinaus zu denken, heißt, sich einzufühlen in die Darstellung, die direkte Umgebung nach der Vorlage zu imitieren und darüber hinaus das zu malen, was da noch im Raum sein könnte: Ein Fenster mit freundlichen Vorhängen und einem strahlend blauen Himmel zum Beispiel, in Sofonisba Anguissolas Selbstbildnis. Oder eine Hängeschaukel neben Kasimir Malewitschs weissem Haus… oder es sind die vereisten Gewässer und Gebirgszüge in Pieter Bruegels Winterbild, deren weiterer Lauf zu sehen ist.
Dies alles waren die Ideen meiner SuS der ersten Klasse Unterstufe. Zuletzt jedoch wurde dem Mischen des richtigen, dem Bild entsprechenden Farbtons die größte Bedeutung beigemessen. SuS kamen reihenweise zu einer Beratung, wie viel Grau noch in diesem Blau ist, wie viel Gelb in jenem Grün, usw. Die Schülerin, die Bruegels Winterlandschaft gewählt hatte, suchte mich bald zehn mal zu einer Konsultation wegen der Farbe des Himmels und des Flusses auf.
Andere begnügten sich mit dem Angebot der Buntstifte. Tatsächlich ist eine sehr überzeugende Arbeit durch den minimalen Einsatz von Farbe entstanden- das Fortspinnen eines Bildes Giorgio De Chiricos, “The Melancholy of Departure”, von 1916. Der Schüler, den ich als detailliebend und vertieft arbeitend kenne, hat der Mystik des Bildes noch einiges drauf gesetzt.
Manche SuS entschlossen sich aber auch zu einer Mischtechnik aus Buntstiften, Wasserfarben und Acrylfarben. Als einen besonders kreativen Akt empfand ich die Ausarbeitung des 1929 entstandenen Bildes “Landscape with white house” von Kasimir Malewitsch. Rechts neben Malewitschs Bild,- so ist hiermit in den Vorstellungsraum gerückt, -könnte eine Schaukel angebracht sein.
Während die Erweiterung des Bildausschnitts sich hier konsequent in der Horizontale hält, hatten andere Schüler das ganze Blatt, mal mehr, mal weniger motiviert gefüllt. In diesem Bild erweiterte die Schülerin die Darstellung in eine fast gänzliche Auflösung von Gegenständen hinein in ornamentale Abstraktion.
2. Kapitel: Kunstgeschichte in der Klassenzimmerdiagonale
Mit der halwegsen Fertigstellung der meisten Arbeiten ordnete ich eine Gliederung der Tische an, nach welcher ein schmaler langer Tisch die Diagonale des ganzen Zimmers teilte. Die SchülerInnen sollten nun auf den Rückseiten ihrer Postkarten nach dem Datum der Entstehung suchen, und die Bilder mitsamt ihren Erweiterungen nach Entstehungszeit ordnen. Da manche mehr als ein Bild gemacht haben, waren das ca. dreißig Bilder mit Referenzbildern, die in einem Zeitraum von 1515-2022 gemalt worden sind. Die SuS sollten nun kurz beobachten, welche Veränderung im Stil, im Inhalt und in der Technik vom ersten bis zum letzten Tisch zu erkennen ist.
Eine Fragerunde ergab, dass frühere Bilder dunkler sind, mehr Einzelportraits aufweisen, neuere Bilder mit frischeren Farben gemalt sind, und mehr Landschaften sowie Darstellungen von vielen Menschen beinhalten. Ich ging kurz darauf ein, dass diese Beobachtungen richtig sind, und für die europäische Kunstgeschichte auch wirklich stimmen. Ich erwähnte die Fotografie als bedeutende Veränderung,- die den Fokus vom Studio und vom Portrait auf die Landschaft und die Farbe lenkte.
Das früheste Bild war in dieser Auflistung Albrecht Dürers Brustbild einer jungen Venezianerin von 1505 sowie ein Bild von Reiner Will aus dem Jahr 2022, so wie deren Erweiterungen:
3. Kapitel: Kunstgeschichtliches Speeddating
Die SuS setzten sich nun gegenüber von einander an die Tische und diskutierten drei Minuten lang die vor ihnen liegenden Postkarten samt ihren Erweiterung. Nach drei Minuten setzte sich eine Tischhälfte einen Platz weiter nach Links, die andere Tischhälfte einen Platz nach rechts, so das sowohl die SuS-Paarung als auch der Diskussionsgegenstand sich erneuerte.
Dieser Teil des Unterrichtsvorhaben ging anders als erwartet sehr euphorisch zu. Die SuS ließen sich tatsächlich lebhaft auf die Diskussion ein.
Im Alter vin 10 Jährigen zählt es vielleicht noch nicht so sehr, ob das Bild von Albrecht Dürer stammt und Karl den Großen abbildet, oder ob die dargestellte Person mit dem großen Schwert selbst Dürer ist. Diese fälschliche Interpretation veranlasste eine Schülerin zu sagen: “Das ist für mich der Albrecht Döner,- weil er ein Dönermesser in der Hand hält.”
Viel mehr bekam ich von den kursierenden Inhalten des Speeddatings nicht mit, vor allem, weil ich mich selbst daran beteiligte. Hier ist mir in Erinnerung, dass ich mit einer Schülerin über eine Postkarte sprach die ein Selbstbildnis von Sofonisba Anguisola zeigt. Ich fing an, von dieser legendären Künstlerin zu erzählten und merkte kurze Zeit später, dass die Kinder ringsum sehr aufmerksam zuhörten. Anguissola, als Malerin der Renaissance zu den ersten bekannten namhaften Frauen der europäischen Kunstgeschichte zählend, wurde über 90 Jahre alt, und wurde zu ihrer Zeit so vereehrt, dass Michelangelo sie noch in ihren letzten Lebensjahren als Greisin besuchte, um von ihr zu lernen. Hier findet Anguissola also in einem farbenfrohen Zimmer Platz, neben sich ein Fenster mit freundlich gepunkteten Vorhängen und blitzblauem Himmel.
Das Bild von Anguissola war eines von sehr wenigen Bildern aus weiblicher UrheberInnenschaft. Das liegt daran, dass die Postkartenproduktion der meisten Museumsshops offenbar nicht mit dem vermehrten Aufgebot an weiblichen Positionen in den Museen mit ziehen. Unter den etwa dreißig weiteren Bildern befand sich noch eine Postkarte von Frida Kahlo, Gabriele Münter, Artemisia Gentileschi und eine von Anita Ree, zu welcher diese Erweiterung gemalt wurde:
4. Abschluss
Für eine gewissenhafte Wiederholung dieses Projekts braucht es ein ausgewogeneres Verhältnis von weiblichen, männlichen und sich anders definierenden Positionen, als auch eine breitere Repräsentanz von Ethnien bzw. KünstlerInnen of Color aus diversen kulturellen Räumen. Gegen die Einseitigkeit der Postkarten vorzugehen ist nicht einfach, weil etwa die Farbpatronen der Drucker teuer sind. Neben einer Postkartensammlung braucht es für die Umsetzung des Projekts diverse Farben (insbesonders das Mischen der Farben war Gegenstand eigenständiger selbstmotivierter Forschung der Schüler_Innen. Die Durchführung in einer ersten Klasse brachte aus meiner Sicht sehr zufrieden stellende Ergebnisse, aber sicher ist das gleiche Projekt auch mit weit höheren Schulstufen produktiv.